Wie viele verworrene Wege muss man durchlaufen, um zur Einfachheit zu gelangen! […] Wenn wir die Tugend häufig nicht üben, ist es auf unser kompliziertes Wesen zurückführen, das von sich weist, was einfach ist. Oft begreifen wir die Großartigkeit nicht, die ein Akt der Einfachheit in sich birgt, weil wir das Große im Komplizierten suchen, weil wir die Bedeutung der Dinge an ihrem Schwierigkeitsgrad messen. […]

Die Tugend, Gott, das innerliche Leben … Wie schwierig erschien es mir, das zu leben! Jetzt ist es nicht so, als besäße ich Tugend oder als seien meine Gotteskenntnis und mein geistliches Leben vollkommen geklärt, aber ich habe erkannt, dass man […] dahin gelangt […] mit genau dem Gegenteil […] in der Einfachheit und Schlichtheit des Herzens […] Ja, tatsächlich … Aber um Tugend zu besitzen, ist es nicht erforderlich, eine akademische Laufbahn hinter sich zu bringen oder sich geistreichen Studien zu widmen. Der einfache Akt des Wollens genügt; häufig genügt der einfache Wille dazu. Warum wohl besitzen wir manchmal keine Tugend? Weil wir nicht einfach sind, weil unsere Wünsche zu kompliziert sind, weil unser schwacher Wille – der sich vom Angenehmen, Bequemen, Unnötigen und oft von den Leidenschaften leiten lässt – uns alles, was wir wollen, schwer macht. […] Wenn wir wollten, könnten wir heilig sein … Es ist viel schwieriger, Ingenieur zu werden, als heilig zu sein.

Hl. Rafael Arnaiz Baron (1911-1938), spanischer Zisterzienser
Geistliche Schriften, 25. Januar 1937, in: Nur Gast auf Erden?, Bernardus-Verlag Grevenbroich 1996, S. 500–501