„Karfreitag“ ist auf dem alltäglichen Weg von Menschen die Umschreibung der Kulmination von Lebensumbrüchen. Diese sind daran zu ermessen, dass bisherige Fundamente wegbrechen und der damit verbundene Halt nicht mehr gewährleistet ist. Wenn ich z.B. den Beruf verliere, der mir Lebensinhalt gegeben hat, werde ich damit neben der Frage nach der finanziellen Lebensgrundlage auch die nach der inneren Bedeutung des Berufes für mich selbst gestellt bekommen. Und unter Umständen merke ich, dass damit auch ein Teil meiner Identität wegbricht. Das, worüber ich mich vorher definiert habe, steht mir nicht mehr zur Verfügung. Und das kann sehr schmerzlich und belastend sein. Ich muss mir eine neue Identität suchen, etwas, woran ich mich festmachen kann.

Für religiös orientierte Menschen kann „Karfreitag“ der innere Verlust von Religion oder im Speziellen der Tod bisheriger Gottesbilder sein. Ich merke z.B., dass die aus der Kindheit oder von anderen Menschen übernommenen Gottesbilder nicht mehr tragen. Der „Gott“, der mir bisher Halt und Führung gegeben hat ist zu einer leeren Hülle geworden. Auch das kann, für nichtreligiöse Menschen kaum verständlich, zu einer bedeutenden Lebenskrise führen.

In beiden Fällen, könnte man mystisch bezogen sagen, wird das „Falsche Selbst“ aufgelöst. Das falsche Selbst sind Muster und Konditionierungen, die Menschen übernommen haben, um, meist in frühen Kindheitszeiten, zu überleben. Sie waren zu bestimmten Zeiten notwendig, und konnten lange Zeit als Stütze dienen. Sie entsprechen aber nicht dem „Wahren Selbst“, also unserer Wesensnatur, die unabhängig von äußeren Gegebenheiten in uns als Lebensgrundlage angelegt ist. Und das tiefe Bedürfnis, unserem wahren Selbst gemäß zu leben, bricht oft in Lebenskrisen auf.

Das „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesu geht darüber hinaus. Ein Mensch, der schlechthin die Verkörperung, die Inkarnation, des wahren Selbst ist, erlebt mit der Auflösung seiner wahren Identität die absolute und tiefgehendste mögliche Verlassenheit. Dies wird im religiösen Kontext „Kenosis“, Selbstentäußerung, genannt. Einesteils zeigt diese Selbstentäußerung die kollektive Bedeutung der Karfreitagstradition in der christlichen Religion. Andererseits ermöglicht sie jedem spirituell oder religiös orientierten Menschen ein individuelles Erahnen und Akzeptieren möglicher Seinszustände jenseits von „Erleuchtung“ und guten Gefühlen und dem unfassbaren Zuspruch, der damit verbunden sein könnte.