Der Weg in die Tiefe

Geistliches Leben ist ein Prozess der Entdeckung und Verwirklichung des wahren Wesens, das tief in uns in der Gegenwart Gottes verborgen ist. Man könnte diesen Prozess mit dem Brunnenbohren vergleichen. Mit der Gewissheit, dass eine in der Tiefe verborgene Quelle vorhanden ist, lässt man sich auf den schweren Weg ein. Man nimmt die Beschaffenheit der Erde so an, wie sie geworden ist, und setzt sich mutig und hoffnungvoll dafür ein, die Quelle zu erreichen, die tief in der Erde liegt. Es ist wie die Suche nach dem verborgenen Schatz im Ackerboden (Mt 13,44; Chand. Up 8,3,2)

Der Weg zu dieser inneren Gegenwart Gottes führt uns durch verschiedene Schichten des Bewusstseins. Wenn man einen Brunnen bohren will, muss man die weichen, aber auch die harten Schichten der Erde durchstoßen. Oft erlebt man Widerstände. Aber die Suche nach der verborgenen Wasserader kann so unbeirrbar sein, dass man die Blockaden allmählich überwindet und in die Tiefe gelangt.

Wer sich auf den inneren, geistigen Weg begibt, erlebt Momente der Dunkelheit, Phasen der Trockenheit, harte, steinige Schichten des Unterbewusstseins und verwirrende Blockaden. Unterdrückte Aggressionen, unverarbeitete Verletzungen, unerfüllte Bedürfnisse, Suchtneigungen, Schuldgefühle, Neid, Hass, Habgier und viele andere derartige negative Kräfte tauchen auf und blockieren den Weg in die Tiefe. Es ist keine Lösung, sie zu verdrängen, aber es hilft auch nicht auf dem inneren Weg, sich mit jeder Blockade im Detail auseinanderzusetzen. Wenn man beim Brunnenbohren versuchen würde, jeden durchschnittenen Stein zu analysieren, käme man kaum in die Tiefe. Die Psychologie kann helfen, innerpsychische Vorgänge festzustellen. Die ganzheitliche Heilung aber kommt erst aus der göttlichen Heilsquelle, die tiefer als der psychische Bereich in jedem von uns verborgen liegt: im Herzensraum, wo die göttliche Seinsdynamik aufquillt. Dass die göttliche Quelle tief in uns liegt, ist die gnadenhafte Gewissheit, die der Glaube verleiht. Sich auf diese Quelle einzulassen und im Leben zuzulassen, in sie hineinzutauchen und von ihr gespeist zu werden – dadurch erfährt man, was es heißt:“ Aus seinem Inneren werden Ströme lebendigen Wassers hervorfließen (Joh 7, 39)

Sebastian Painadath, Der Weg in die Tiefe, aus: Erkenne deine göttliche Natur, S.72